Kann eine Gemeinde ohne lokale Gemeinschaft existieren?
Im September 2017 wurde ich von der Netzgemeinde DA_ZWISCHEN angefragt, ein Paper zu grundlegenden Fragen der Netzgemeinde zu erstellen. Ziel war es, das bestehende Projekt in seinen Grundzügen zu beschreiben, den Begriff der Netzgemeinde zu schärfen und Entwicklungsmöglichkeiten aufzuzeigen. Die Frage, die mich während der Arbeit an dem Paper am meisten beschäftigt hatte, war die Frage nach dem Verhältnis von Gemeinde und Gemeinschaft. Also: Lässt sich von einer Gemeinde sprechen, wenn auf Grundlage der eingesetzten Technik (WhatsApp-Impulse an zwei Tagen der Woche) eine klassische Gruppengemeinschaft nicht vorhanden ist?
Mit freundlicher Genehmigung meiner Auftraggeber kann ich diesen Teil der Überlegungen nun zugänglich machen. Die Frage nach Gemeinde ist dabei stark an die Definition von Gemeinde an dem Seelsorgekonzept „Der Geist ist es, der lebendig macht (Joh 6,63) – Das neue Seelsorgekonzept für das Bistum Speyer“ angelehnt. Diese wiederum bedient sich stark der Überlegungen von Walter Kasper in seinem Buch „Katholische Kirche: Wesen – Wirklichkeit – Sendung“.
Der Begriff „Netzgemeinde“
Im populären Sprachgebrauch wird der Begriff der Netzgemeinde vor allem für ein Beschreiben von scheinbar einheitlichen Meinungen/Milieus im Internet genutzt. Die erste Erwähnung findet sich 1998 in der Zeitung „Die Zeit“ (Die Zeit, 44, 22.10.1998, Nr. 44). Im kirchlichen Kontext ist der Begriff Netzgemeinde zusammengesetzt aus dem Begriff der Gemeinde als kleinste Ordnungseinheit des christlichen Zusammenlebens und dem Begriff des Netzwerkes, welches in seiner Verkürzung auf die digitale Dimension hinweist. Netzgemeinde meint folglich eine kirchliche Gemeinde, die sich vor allem im digitalen Raum verortet.
Die Verortung im digitalen Raum bedeutet dabei nicht, dass diese Art von Gemeinde ausschließlich im digitalen Raum unterwegs sind, sondern nur, dass ihr Hauptengagement eben dort beheimatet ist. Eine traditionelle Ortsgemeinde kann folglich ebenfalls eine Präsenz im digitalen Raum haben (Facebook, Homepage, E-Mail-Adressen) ohne ihren Schwerpunkt vom Ort wegzubewegen.
Der theologische Begriff der „Gemeinde“ als Bezeichnung für eine Gemeinschaftsform unterhalb oder neben der Pfarrei taucht in der katholischen Theologie erstmals rund um das II. Vatikanische Konzil auf. Gemeinde ist dabei die von Luther genutzte Übersetzung für das griechische Wort ekklesia. Im Gegensatz zur Pfarrei, die einen einseitig, rechtlichen Begriff einer territorial gefassten Verwaltungseinheit beschreibt, betont die Gemeinde das Moment der im Bekenntnis und Glauben an Jesus Christus wurzelnden, freien Zusammenschluss von Personen. (Lehmann, Gemeinde. In: Christlicher Glaube in moderner Gesellschaft, Bd. 29).
Der Begriff der Gemeinde wurde in der nachkonziliaren Theologie vor allem als spirituelle Seite von Pfarrei etabliert. Dies zeigt sich besonders deutlich im Begriff der „Pfarrgemeinde“, welcher sich bis heute in der Sprache der Gläubigen befindet, und dem damit verbundenen Aufruf von Klostermann „Unsere Pfarreien müssen zu Gemeinden werden“ (Fischer/Greinacher/Klostermann, Gemeinde. 1970). Die Einführung des Begriffes der Gemeinde und die begriffliche Unschärfe gegenüber Kirche und Pfarrei, sorgte dafür, dass der Begriff der Gemeinde in der katholischen Theologie sehr selten einzeln betrachtet worden ist. So trifft zum Beispiel der CiC keine Aussagen über Gemeinde und sieht die Pfarrei als unterste Ordnungseinheit der katholischen Kirche. Der Grund für diese Ordnungseinheit „Pfarrei“ liegt im Beschluss des Konzils von Trient (1545-1563), welches bestimmte, dass es kein pfarrloses Volk mehr geben dürfe.
Erst durch die Strukturprozesse der Bistümer, in welchem die Pfarreien vergrößert werden, bekommt der Begriff der Gemeinde ein eigenes Profil.
Welche Aufgaben haben Gemeinden?
Die Pfarrei wird gemäß den kirchenrechtlichen Bestimmungen als territoriale Gliederung der Diözese verstanden, welche vom Bischof auf Dauer errichtet wird. Gemeinden hingegen sind Versammlungen von Christinnen und Christen um Jesus Christus, die gemeinsam ihren Glauben feiern (leiturgia), Zeugnis in Wort und Tat geben (martyria), sowie den Mitmenschen nah sind (diakonia). Sie sind temporärer Natur und bedürfen keine Errichtung durch den Bischof.
Eine Gemeinde handelt dann als Kirche, wenn sie einig, heilig, apostolisch und katholisch ist. Einig meint die Gemeinschaft der Gemeinde mit der Pfarrei und dadurch auch mit Teil- sowie Weltkirche. Heilig wird die Gemeinde durch ihre Gemeinschaft mit Jesus Christus, die sich im Leben aus seinem Wort, leiten durch seinen Geist und dem gemeinsamen Feiern eines Gottesdienstes zeigt. Durch den Einsatz für die Evangelisierung wird die Gemeinschaft apostolisch und lebt mit dem damit verbundenen Engagement für alle Menschen v.a. in ihrer unmittelbaren Umgebung die eigentliche Bedeutung von katholisch (Diese Definition folgt zwar dem Seelsorgekonzept des Bistums Speyer, ist jedoch im Großen in der Pastoraltheologie eine Standarddefinition von der Konkretion von Kirche in der Gesellschaft.).
Die Gemeinde muss dabei nicht die Fülle des kirchlichen Angebotes bereithalten, sondern kann durch die Hinordnung auf die Pfarrei (Subsidiaritätsprinzip) durch eben diese in den Aufgaben ergänzt werden; beziehungsweise ergänzt aktiv die Pfarrei durch ihre eigenen Qualitäten und gesetzten Schwerpunkten. Entscheidend ist, dass innerhalb der Pfarrei alle Aufgaben der Lokalkirche erfüllt werden können.
Die Pfarrei vernetzt und koordiniert die Aktivitäten der unterschiedlichen Gemeinden innerhalb seiner territorialen Grenzen und kann dadurch Kräfte bündeln, um neue Beziehungsgeflechte zu entwickeln und zu fördern.
Ist die Netzgemeinde eine Gemeinde?
Um zu beurteilen, ob eine Netzgemeinde eine Gemeinde im vorher definierten Sinne sein kann, gilt es, diese auf das Beispiel DA_ZWISCHEN anzuwenden und fehlende Bereiche aufzuzeigen.
Zweifellos liegt das Hauptaugenmerk von DA_ZWISCHEN in der Auseinandersetzung der Mitglieder mit der eigenen Gottesbeziehung also der Frage nach dem eigenen Glauben. Sie ist dadurch heilig, dass Sie die Mitglieder wöchentlich mit dem Wort Gottes (direkt und indirekt) in Kontakt bringt und Sie zum Nachdenken anregt. Dadurch, dass die Mitglieder sich bewusst in der Gemeinde registriert haben, kann auch von einem bewussten Konsum der Impulse für das eigene Leben ausgegangen werden. Die ständige Auseinandersetzung mit dem Wort Gottes ist Hauptbestandteil der Evangelisierung (Evangelii Nuntiandi, 15). DA_ZWISCHEN regt dazu an, über den eigenen Glauben vor den anderen Mitgliedern (durch die „Feedback“-Impulse am Freitag) zu sprechen (und damit auch im Sinne der martyria Zeugnis abzulegen) und handelt daher apostolisch.
Der Begriff der Evangelisierung hat seinen Ursprung in dem Apostolischen Schreiben Evangelii Nuntiandi von Paul VI (1975). Dort wird die Evangelisierung in sechs Stufen beschrieben, wobei die letzte Stufe wieder zur ersten verweist (Evangelii Nuntiandi, 24). Entscheidendes Element der Evangelisierung ist, dass zuerst die Tat und dann das Wort genannt wird. Jeder Evangelisierungsprozess ist gleichzeitig immer auch ein gesellschaftlicher Transformationsprozess. Evangelisierung bleibt somit nie innerhalb des innerkirchlichen Kosmos, sondern hat immer Strahlkraft in die nicht-kirchliche Umwelt hinein (Sauer, Tobias: Der persönliche Glaube als Chance für eine Evangelisierung, Mag. Theol. Abschlussarbeit, 65ff.). Neben diesem theoretisch-abstrakten (empirisch zu beweisenden) Wirkung von DA_ZWISCHEN in die reale und nicht kirchliche Welt, sorgt die Umsetzung der Impulse immer wieder für konkrete Aktionen an den Mitmenschen. Ein Beispiel ist der Impuls vom 5. September 2017: „Probier´s mal mit uns aus und komm heute mal zu spät! Verschenke fünf Minuten an jemanden, der ein bisschen Extra-Zeit gebrauchen kann. (Vielleicht mit einer kleinen Vorwarnung)“. Hier steht eindeutig die Tat am Nächsten als erster Schritt hin zu einem Gespräch über die Tat. Auch wenn in Deutschland Zu-spät-kommen wohl kaum als diakonisches Werk im eigentlichen Sinne anerkannt wird, macht es doch deutlich, dass der Wirkradius von DA_ZWISCHEN über DA_ZWISCHEN hinaus geht und die Gemeinde somit sowohl katholisch als auch im Sinne der diakonia wirkt (wenn auch selbstverständlich nicht vollumfänglich, sondern nur als Ergänzung zum allgemeinen diakonischen Werk der Kirche).
DA_ZWISCHEN verheimlicht an keiner Stelle, dass es ein Angebot des Bistums Speyers ist. Sie zeigt sich dadurch einig mit der Teil- und Weltkirche. Auffällig ist jedoch, dass Sie keine Rückbindung an die Pfarrei hat, sondern strukturell direkt an die Bistumsverwaltung angeschlossen ist. Dieses Konstrukt ergibt, vor allem wenn man die Überregionalität digitaler Angebote bedenkt, durchaus Sinn, wird jedoch im Seelsorgekonzept nicht bedacht.
Zwar feiert DA_ZWISCHEN keinen Gottesdienst im klassischen Sinne, jedoch gibt es immer wieder explizite Gebete als Impulse. So wird zwar auch die leiturgia nicht in ihrem vollen Umfang repräsentiert, aber sie ist, im Rahmen der Zielrichtung der Gemeinde, vorhanden.
Spätestens seit der pastoraltheologischen Reflexion der Grundvollzüge nach dem II. Vatikanischen Konzils, wurden diese durch den Begriff der koinonia (Gemeinschaft) ergänzt. Mit Hinblick auf DA_ZWISCHEN im Speziellen und Gemeinden im allgemeinen, stellt sich die Frage was der Unterschied zwischen Gemeinde und Gemeinschaft ist und folgend, ob DA_ZWISCHEN, welches innerhalb der privaten Kanäle keine Kommunikation unter den Gemeindemitgliedern zulässt, überhaupt eine Gemeinschaft im Sinne der koinonia sein kann.
Das Verhältnis von Gemeinde und Gemeinschaft
Der maßgebliche Unterschied zwischen Gemeinschaft und Gemeinde ist, dass Sinn und Zweck einer Gemeinschaft immer die eigene Versammlung ist. Eine Gemeinschaft entsteht folglich immer nur, wenn Personen zueinander finden.
Die Gemeinde meint jedoch immer eine Sammlung um etwas beziehungsweise für etwas außer der Sammlung selbst. Somit hat Gemeinde immer etwas anders als sich selbst zum Inhalt. Kirchliche Gemeinden haben Jesus Christus als Mittelpunkt, um den sie sich erst konstituieren (Mt 18, 20). Eine bloße Versammlung ist nicht ausreichend für eine Gemeinde (1 Kor 11, 20). Durch diesen Charakterzug können Gemeinden immer da entstehen, wo sie sich um eine gemeinsame Mitte versammeln. Dadurch sind Gemeinden temporärer als Gemeinschaften, die sich meistens für ein längeres Miteinander verpflichten.
Gemeinschaft innerhalb einer Gemeinde meint folglich das gemeinsame Zusammensein um Jesus Christus als Mitte. Dies erfüllt DA_ZWISCHEN. Zusätzlich entsteht durch die Wirkkraft in die reale Welt immer wieder neue Begegnungen, die zu festen Gemeinschaften werden können. Dadurch ist DA_ZWISCHEN eine Gemeinde mit Gemeinschaft, die zur Bildung von Beziehungen für den Aufbau von Gemeinschaft stimuliert.
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Als Gemeinde sammeln sich die einzelnen Personen um Jesus Christus herum. | Dabei sind die einzelnen Personen selbst in Gemeinschaften verbunden. Dabei kann es zu Überschneidungen von Gemeinde und Gemeinschaft kommen. Das ist jedoch nicht der Regelfall. |
Abschließend: Sind Netzgemeinden Gemeinden?
Netzgemeinden können, wie am Beispiel von DA_ZWISCHEN aufgezeigt, alle Funktionen einer Gemeinde erfüllen und sind können aus diesem Grund auch vollwertige Gemeinden sein. Netzgemeinden zeigen, dass Gemeinde, Gemeinschaft und Pfarrei keine Synonyme sind, sondern nur miteinander verwandte Begriffe mit unterschiedlichen Aufgabenbereichen.
Bei aller Gemeinsamkeit ist festzuhalten, dass Netzgemeinde im Blick auf Mitgliederzahlen einer anderen Logik als klassische Gemeinden folgen. Der digitale Raum ist nicht territorial, sondern kategorial (z. B. Sprache, Interesse, Religion) beschränkt. Örtliche Grenzen spielen keine Rolle. So kann jeder auf der Welt Mitglied einer Netzgemeinde werden. Auch die Kommunikationsstruktur ist (in der Theorie) unendlich skalierbar. Es gibt keine Beschränkung wie Kirchenraum, Einzugsgebiet oder Mobilität bei der Kommunikation mit den Mitgliedern. Aus diesem Grund müssen sich Netzgemeinden untereinander von ihrem Angebot unterscheiden – also eine andere Kategorie ansprechen.
Netzgemeinden bieten eine riesige Chance die Auseinandersetzung mit der Welt, Transzendenten und sich selbst zu stärken. Sie denken das Konzept von Kirche digital und bieten mit ihrem Ansatz eine neue Art und Weise an über analoge Gemeinden und Großpfarreien nachzudenken.
Tobias Sauer
Der Artikel gefällt mir sehr gut, weil er viele Aspekte, die ich in der digitalen Kirche schätze verständlich formuliert, so dass ich auf ihn verweisen kann, wenn es wieder einmal im sogenannten realen Leben um die Bedeutung der Digitalisierung in unseren Gemeinden geht. Wir verlieren nichts, wenn Menschen sich digital im Glauben organisieren.
Eine Frage hätte ich noch:
Muss man gar nicht klären, wer Gemeindeleitung ist? In der Grafik ist links keine Verbindung untereinander gezeichnet, aber rechts. Da muss ich drüber nachdenken.
Die Frage der Leitung ist in der Tat eine spannende Frage. Bei da_zwischen ergibt sich die Leitung aus der Struktur der Impulserstellerinnen und Leserinnen. Andere Formen von Netzgemeinden können sicher auch andere Formen von Leitung haben. Leitung sollte, meiner Meinung nach, sich vor allem nach den Zielen der Gemeinde richten, nicht nach strukturellen Vorgaben. Darin liegt ja gerade die Stärke von Gemeinde gegenüber Pfarrei; das temporäre und fluide.
Zu den Grafiken: Die Gemeindemitglieder haben erstmal keinen Kontakt untereinander. Die Gemeinschaften entstehen in der Gemeinde, weil Menschen aus der Gemeinde sich mit Menschen aus und um die Gemeinde herum befreunden. Gemeinde ist von ihrem Wesen erstmal auf ihre Mitte fokussiert.