Was Gott alles nicht kann

Ein Gastbeitrag von Jason Liesendahl (Host bei @schoenerglauben)

Mein Leben lang habe eine gewisse Grundsicherheit gespürt. Schulischer und beruflicher Werdegang, soziales Umfeld, Finanzen, Gesundheit – in allen möglichen Bereichen bin ich davon ausgegangen, dass es schon werden wird. Auch wenn ich in mancherlei Hinsicht privilegiert aufgewachsen bin, so führe ich dieses positive Grundgefühl nicht nur auf meine äußeren Umstände zurück. Vielmehr ist es eine geistliche Grundüberzeugung gewesen: Gott hat alles in der Hand. Ich kann mich darauf verlassen, dass mein Leben von Gott geführt wird und daher alles unter Kontrolle ist.

Salomon Sally Perel und die Suche nach der Antwort

Diese Überzeugungen wurden in meinem Leben an verschiedenen Stellen herausgefordert und bekamen Risse. So beispielsweise durch den Besuch von Salomon Sally Perel, dem „Hitlerjungen Salomon“. Er hielt einen Vortrag an meiner Schule und stellte sich anschließend den Fragen der Zuschauenden. Auf die Frage, was er über Gott denke und warum Gott den Holocaust nicht verhindert habe, reagierte er erstaunlich. Er habe darauf keine Antwort, aber wenn von den Zuhörenden jemand eine Antwort finden würde, dann könne man ihm gerne schreiben. Immer wieder musste ich im Nachgang darüber nachdenken. Ich hätte es tatsächlich unanständig gefunden, Herrn Perel mit einem Antwortbrief zu behelligen, aber seine Geschichte hatte eine Menge in mir ausgelöst. Perel war 1941 als Jugendlicher auf der Flucht vor den Nazis, wurde dann schließlich auf sowjetischem Boden gefasst und überlebte nur durch die Lüge, er sei ein katholischer Volksdeutscher.

Gibt es angesichts solcher Geschichten eine gute Antwort auf die Frage nach Gottes Wirken in der Welt? War mein eigenes Sicherheitsgefühl nur Folge von glücklichen Umständen? Aber müsste ich mit ein bisschen breiterem Blick nicht feststellen, dass in dieser Welt eine Menge Dinge völlig aus dem Ruder laufen und der Glaube an Gottes Kontrolle daher wenig mit der Realität zu tun hat? Für mich war klar, dass ich Herrn Perel keine gute Antwort hätte schreiben können. Ich hätte vor allem mir selbst keine Antwort schreiben können. Ich könnte es auch heute nicht.

Hans Jonas und ein Gott, der die Welt sich selbst überlässt

Allerdings machte ich mich auf die Suche nach Menschen, die über diese Fragen nachgedacht haben und mich weiterbringen könnten. Ich traf auf Hans Jonas, einen jüdischen Denker, der unter dem Eindruck des Holocausts sehr radikal über Gott nachgedacht hatte und zu dem Schluss kam, dass man Gottes Allmacht als Konstrukt fallen lassen müsse. Den Herrn der Geschichte müsse man freilich fahren lassen. Jonas glaubte, dass Gott sich entschieden habe, die Schöpfung ins Dasein zu rufen. Die damit einhergehende Freiheit der Schöpfung habe zur Kehrseite, dass Gott in dieser Welt nicht mehr eingreifen könne. Diese Welt ist weitestgehend sich selbst überlassen.

Diese radikale Absage an die Allmacht Gottes könnte sicher erklären, warum Gott beispielsweise den Holocaust nicht verhindert hat. Er konnte es nicht. Aber für mich war es völlig undenkbar, dass Gott ohnmächtig sein könnte. Ein untätiger Gott – das hat mich nicht abgeholt.

Prozesstheologie und die Liebe als Gottes Wesen

Ich stieß auf andere Ansätze. Vor allem die Prozesstheologie gewann mein Interesse. Auch hier hat man wie bei Jonas das Konzept der Allmacht hinterfragt und neu formuliert. Hier hat man allerdings nicht nur von der Erfahrung her argumentiert und ich konnte verschiedene biblische Gedankengänge finden, die ich in meinem Buch „Gott kann auch nicht alles“ so zusammengefasst habe:

„Man kann beispielsweise verschiedene Textstellen finden, in denen davon geredet wird, dass Gott etwas nicht kann: Gott kann nicht lügen (Hebräer 6,18), nicht bereuen (4. Mose 23,19) oder nicht zum Bösen versucht werden (Jakobus 1,13). Gott kann nicht – das steht mehrfach in der Bibel. Was macht ein Satz, der mit »Gott kann nicht« anfängt mit der Idee, dass Gott alles kann? Eine sehr aufschlussreiche Bibelstelle, die uns in dieser Frage weiterbringen kann, findet sich im 2. Timotheusbrief, der über Gott sagt, dass wenn wir untreu wären, Gott treu bliebe, da Gott sich selbst nicht verleugnen könne (2. Timotheus 2,13). In dieser Stelle wird auf den Punkt gebracht, worin Gottes Begrenzung liegt. Alle Aussagen darüber, was Gott nicht kann, werden hier zusammengefasst. Gott kann sich selbst nicht untreu werden. Wenn es eine Begrenzung für Gott gibt, dann ist es Gottes Charakter bzw. Wesen. Und Gottes Wesen ist die Liebe. Man könnte daher auch sagen, dass Gott nur Dinge tun kann, die mit ihrer Liebe übereinstimmen. Gegen ihre Liebe kann Gott nicht verstoßen. Gott kann nicht aufhören zu lieben, weil sie dann aufhören würde, Gott zu sein.“

Jason Liesendahl: Gott kann auch nicht alles. Einführung in die Prozesstheologie (ruach.jetzt 2024)

Geht man von menschlicher Liebe aus, dann gibt es eine Menge Dinge, zu denen Menschen aus Liebe bereit wären. Aber Liebe ist vom Kern her freisetzend und kann daher nicht überwältigen. Wenn Gott nur so stark ist, wie es Liebe ist, dann kann Gottes Macht in dieser Welt manchmal schwach wirken. Liebe kontrolliert nicht und zwingt nicht. Aber sie kann werben und überzeugen. Sie kann andere gewinnen. Und dabei vermag sie in einer Tiefe zu verändern, wie es überwältigender Zwang niemals vermag. Liebe hat eine große Wirkung, aber sie ist auch verletzlich.

Für Prozesstheolog:innen ist die Macht Gottes die Allmacht der Liebe. Sie ist in dieser Welt wirksam. Sie ist geduldig und lässt sich nicht erbittern. Sie glaubt an das Gute und wirbt. Sie lockt und ruft. Vielleicht ist es verführerisch, an einen allmächtigen Gott zu glauben, der die Dinge zur Not auch mit Zwang in die gewünschte Richtung bringen kann. Es mag ein gutes Sicherheitsgefühl erzeugen. Aber vielleicht ist es zutreffender, Gottes Macht von der Liebe her zu denken. Das löst sicher nicht alle Fragen, aber man kann ja mal in diese Richtung weiterdenken…

Jason Liesendahl

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